Der alltägliche Sprachgebrauch verspricht bei Kaffeesudleserei eine eher wenig seriöse, keinesfalls vertrauensvolle Prognose der Zukunft. Und abseits der Kaffeedomantie – also dieser vermeintlichen Weissagungskunst aus einem Kaffeesatz – ist der zurückbleibende Rest nach der Kaffeezubereitung gewöhnlich ein Abfallprodukt. Bedeutungslos, wenn der Genuss extrahiert wurde. Warum also einer Website diesen Namen geben, wenn sie weder als Satireprojekt verstanden werden, noch sich in einem gedanklichen Nahverhältnis zu dubiosen Volkaberglauben wiederfinden will?
Vielleicht beginnt der Gedankengang am besten mit der genaueren Betrachtung dieses Restes, der nach der Extraktion übrig bleibt. Zu diesem Zeitpunkt hat dieses nasse Kaffeepulver eine lange Geschichte hinter sich. Alleine die Reise der Bohnen, die sie durch den Transport aus fernen Ländern hinter sich haben, ist bemerkenswert, wenn auch aus verschiedenen Blickwinkeln nicht ganz unproblematisch. Der Anbau, die Pflege und Mühe, die bis zur Reife der Bohnen erforderlich ist, ebenso. Das Fingerspitzengefühl vom richtigen Zeitpunkt der Ernte. Wochenlanges behutsames Trocknen, bis die angestrebte Restfeuchte erreicht ist. Das richtige Schälverfahren und gewissenhafte Sortieren.
Vor der Vollendung steht dann noch die Erfahrung bei der Auswahl und gegebenenfalls bei der Mischung zusammenpassender Geschmacksnoten, bevor dann die Kunst der Röstung die Komposition der Geschmacksstoffe in einer Bohne abschließt. Chemisch betrachtet geschieht beim Rösten vor allem eine Maillard-Reaktion, also eine Kette von Umwandlungen von Aminosäuren und reduzierenden Zuckern zu Melanoidine. Daneben setzt auch eine Karamellisierung ein, also ein Oxidationsprozess von Zucker. Wird das Handwerk der Röstung beherrscht, entstehen in Folge bis zu 1.000 neue geschmackstragende Verbindungen in unterschiedlichen Mengenverhältnissen, die Einfluss auf das Aroma ausüben. Nur etwa 90% davon konnten bis heute chemisch entschlüsselt werden. Die restlichen 10% liegen noch immer im Unbekannten. Somit ist nicht nur die Herstellung eines künstlichen Kaffeearomas bisher zum Scheitern verurteilt, auch zur Beurteilung einer Röstung sind einzig und alleine die biologischen Sinne fähig. Die Herstellung des Kaffees bleibt vorerst eine Kunst und kann bis dato durch keine Formel ersetzt werden.
Die Zubereitung vollendet diesen langen Weg. Bei einem klassischen Espresso werden gewöhnlich zwischen 18 % und 22 % der in den Bohnen enthaltenen Stoffe mittels heißem Wasser und Druck extrahiert. Es benötigt keinesfalls die naheliegende Bemerkung, dass natürlich nur die richtigen Stoffe, im richtigen Verhältnis zu entnehmen sind – wobei was richtig ist und was nicht, nur in den eigenen Vorlieben liegen kann. Mahlgrad, Menge, Pulververdichtung, Wassertemperatur und -druck sind nur die primären Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, um die Extraktion zu beeinflussen. Man kann sein ganzes Leben lang auf der Suche nach dem perfekten Kaffee sein und das Leben wird einen lehren, dass es immer wieder neue Kompositionen geben wird, die in eine völlig neue Richtung zeigen. Die Suche lohnt sich, nur die Erwartung des Findens wird vermutlich darin enden, stets das Besondere in einem mittlerweile allgegenwärtigen Alltagsgetränk zu entdecken.
Die Zubereitung des Kaffees lässt sich bis ins 9 Jh. n Chr. nach Äthiopien zurückverfolgen und seither werden unaufhörlich diese entscheidenden 18 % bis 22 % verfeinert. Es darf wohl unwidersprochen gesagt werden, dass hier in den letzten Jahrhunderten großartige Arbeit geleistet wurde. Im metaphorischen Umkehrschluss warten jedoch noch die zumindest 78 % zurückbleibenden Inhalte im Kaffeesud – die Schalen und Erfahrungen, die am Weg angefallen sind, noch gar nicht mitgerechnet – auf deren Stunde. Freilich, als Biomasse und Nährboden erfüllt alles pflanzlichem Ursprungs einen letzten Zweck.
Symbolisch steht der Kaffeesud für das Unbekannte, das neben dem Bekannten noch zu entdecken ist. Für die vielen Dinge, die am Weg anfallen, aber deren eigener Zweck noch weiter zu ergründen ist. Wenn in die eine Richtung geblickt wird, um das Gesuchte zu finden, entsteht in einer anderen Richtung möglicherweise etwas, was es wert ist gefunden zu werden. Diese Website ist ein Versuch in verschiedene Richtungen zu blicken.
Somit kann der Kaffeesud durchaus für Zukunft und Erkenntnis stehen, allerdings nicht auf der Grundlage von Aberglaube und pseudowissenschaftlicher Gaukelei, sondern der Vernunft folgend im Sinne von Aufklärung und Forschung.
Im Kaffeesud lesen, ist den Kaffeesud studieren, sich ihm forschend zu nähern.